Samstag, 20. Februar 2010

Hartz IV – Warum Westerwelle Recht hat und doch wieder nicht! (Keine Satire!)

Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Hartz-IV-Sätze als grundgesetzwidrig erklärt hatte, platzte FDP-Chef Guido Westerwelle der Kragen. In einem Beitrag der Tageszeitung „Die Welt“ kritisierte er den Sozialstaat Deutschland als Missachtung der Mitte.

In Deutschland gebe es nur noch Bezieher von Steuergeld, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wer für diese Leistungen aufzukommen hätte. Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspreche, lade zu spätrömischer Dekadenz ein. Zu guter letzt trage die Diskussion um das Hartz-IV-Urteil sozialistische Züge. Westerwelle und sein Generalsekretär Christian Lindner haben diese Aussagen mehrmals bekräftigt.

Hat Westerwelle mit seiner Kritik Recht? Wenn man von dem ziemlich schroffen Ton des „eigentlichen“ Bundesaußenministers absieht, kann man zunächst zu folgendem Schluß kommen: ein eindeutiges Ja einerseits.

Überfrachtung des Sozialstaats

Eine alleinerziehende Mutter erhält vom Staat circa 1500 Euro (zwei Kinder, inklusive Miete). Eingedenk der Tatsache, dass die Löhne seit 1995 stetig in Deutschland sinken (in Großbritannien sind sie um 25 % gestiegen), besteht nur für wenige Personen dieser Zielgruppe ein Anreiz, sich eine Arbeitsstelle auf dem ersten Arbeitsmmarkt zu suchen.

Dies gilt auch für eine vierköpfige Familie die Leistungen nach dem SGB II (Hartz-IV) bezieht. Zieht man alle direkten und indirekten Zuwendungen hinzu, kann man durchaus auf einen Betrag zwischen 1600 und 2000 Euro kommen. In Berlin bezahlte das zuständige Jobcenter vor einigen Jahren sogar einen Betrag von 2200 Euro aus.

Hinzu kommen diverse Zusatzleistungen: vergünstigtes Ticket für den öffentlichen Nahverkehr, keine Zuzahlungen bei der Krankenversicherung, kostenloser Besuch in staatlichen Museen, verbilligte Eintrittskarten für Theater oder Sportveranstaltungen etc. etc.

Für viele oder sogar für die meisten Zuwendungsempfänger lohnt es nicht, sich eine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt zu suchen. Welcher seine Familie ernährende Handwerker verdient beispielsweise 2000 Euro netto? Ein Theaterbesuch oder ein Besuch einer Sportveranstaltung bei einem viel geringeren Verdienst fällt für ihn ins Reich der Utopie! Wer nicht arbeitet, kann mehr in der Tasche haben als derjenige, der arbeitet!

Guido Westerwelle hat diesbezüglich die Schwachstelle des bundesdeutschen Sozialsystems gnadenlos aufgedeckt. Dies ist im Übrigen auch der eigentliche Grund, warum die gesellschaftlichen und medialen Kräfte der Republik so empfindsam und empörend darauf reagiert haben.

Was Westerwelle verschweigt

Warum hat der FDP-Chef gleichzeitig Unrecht? Er macht keine konkreten Angaben darüber, wie das Problem behoben werden kann. Hierin liegt die große Schwachstelle seiner „Aussagen“!

Zum einen ist sein Vergleich der „spätrömischen Dekadenz“ ein ahistorischer Vergleich. Das römische Imperium ging Ende des fünften Jahrhunderts nicht unter, weil eine Armada von Plebejern faul in der Hängematte lag und sich vor Arbeit drückte.

Es existierte vielmehr eine ähnliche Situation wie heute in der Bundesrepublik Deutschland: das Reich lebte seit vielen Jahrzehnten auf Pump. Die oberen Schichten drückten sich vor Reformen, weil sie ihre Privilegien nicht verlieren wollten.

Insofern hätte Westerwelle mit seiner Kritik nicht die Hartz-IV-Empfänger ins Visier nehmen dürfen, sondern die politische Klasse des Landes, die Banker, die Beamten oder die Subventionsmentalität in Deutschland. Diese Gruppierungen scheuen ebenfalls Reformen wie der Teufel das Weihwasser. Dazu gehören selbstverständlich auch große Teile der Mittelschicht.

Es ist mir unerklärlich, warum die Mitarbeiter des FDP-Vorsitzenden diesen Vergleich zogen und es spricht nicht für Westerwelle selbst, dies bei Durchsicht des Textes übersehen zu haben.

Zweitens begibt er sich auf dünnes Eis, indirekt ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu kritisieren.

In Deutschland gehört das Sozialstaatsprinzip neben dem Rechtsstaats-, dem Bundesstaats- und dem Demokratieprinzip zur Grundlage der Verfassungsordnung. Das Gericht kontrolliert in regelmäßigen Abständen die Höhe des Existenzminimums.

Neben der Menschenwürde und den Menschenrechten legt das Grundgesetz in Artikel 79 Abs. 3 GG das Sozialstaatsprinzip als ewig geltendes Recht fest (Ewigkeitsklausel). D.h. es kann durch keine Grundgesetzänderung verändert werden. Daraus folgt, dass niemand gegen die de facto Erhöhung der SGB-II-Zuwendungen durch das Bundesverfassungsgerichts angehen kann. Die Politik muss direkt oder indirekt die Zuwendungen erhöhen. Und genau diesen Sachverhalt verschweigt Guido Westerwelle und drückt sich davor, konkrete Alternativen zu benennen.

Drittens spricht sich die FDP vehement gegen Mindeslöhne aus. Wenn die Löhne aber auf dem freien Markt – besonders im Niedriglohnsektor – weiter sinken (oder so bleiben) und die sozialen Zuwendungen nach dem jüngsten Urteil erhöht werden müssen, lohnt sich in verschärfter Form Arbeit nicht. In keinem anderen OECD-Land ist der Anteil der Niedrigverdienenden so groß wie in Deutschland.

Alles in allem ist das verfassungsrechtliche Korsett somit sehr eng gezurrt. Was bleibt also zu tun, wenn die Sozialleistungen de facto bzw. de jure nicht gekürzt werden dürfen?

Konservative und liberale Kreise sprechen sich in den letzten Wochen für eine verstärkte „Zwangsrekrutierung“ von Langzeitarbeitslosen aus. Hierfür kämen meistens nur die Kommunen in Frage, weil viele Arbeitslose nicht vermittelbar sind. Die Kommunen selber würden gerne bei klammen Kassen ihre Schulen sanieren oder ihre öffentlichen Plätze durch Zuwendungsempfänger säubern lassen.

Doch hier tritt für die Liberalen eine Art Quadratur des Kreises ein! Setzen sie eine Art von Zwangsarbeit durch, verlieren kleine und mittelständische Betriebe ihre kommunallen Aufträge und es stünde uns in der Republik eine Entlassungswelle bevor. Dies kann nicht im Sinne einer liberalen Wirtschaftspolitik sein.

Auch das liberale Konzept eines Bürgergeldes ist keine Alternative. Das Bürgergeld forciert erst recht den Anreiz, sich keine Arbeit mehr auf dem ersten Arbeitsmarkt zu suchen, weil die Leistungen in der Regel noch höher veranschlagt werden als bei Hartz-IV. Der ehemalige CDU-Ministerpräsident Thüringens, Dieter Althaus, sprach sich in einer CDU-Programmkommission vor einigen Jahren für 800 Euro im Monat aus. Die FDP hatte ähnliches vorgesehen.

Eine „liberale Revolution“ mit einer neuen – das Sozialstaatsprinzip ausradierenden – Verfassung. "Verfassungsrevolutionen" müssen freilich mit einer überwiegenden Mehrheit der politischen und gesellschaftlichen Kräfte initiiert werden. Eine irreale Vorstellung ergo.

Die Anhänger der sogenannten Mitte könnten darauf warten, dass der Europäische Gerichtshof das Sozialstaatsprinzip der Bundesrepublik Deutschland mit Verweis auf andere Staaten - z.B. Spanien oder Großbritannien - mit den europäischen Verträgen als nicht verfassungskonform erklärt. Eine Variante, die woh theoretischl erst mit einem Bundesstaat „Vereinigtes Europa“ zu verwirklichen wäre, also eventuell niemals eintritt.

Einführung von Mindestlöhnen unerlässlich

Wenn – wie die FDP im Wahlkampf 2009 als Parole ausgab - sich Arbeit wieder lohnen muss, steht sie in der Pflicht, die von ihr abgelehnten Mindestlöhne einzuführen. Es ist der einzige Ausweg, die Schere zwischen Sozialleistungen und Arbeit auf dem freien Markt zu erweitern.

Verschließt sich die Partei weiterhin dieser Lösung, bleibt das Problem bestehen und es werden weiterhin ganze Generationen von sozialen Leistungen leben (sowie der Schwarzarbeit weiter huldigen).

Versuchte sie auf politischem Wege, den Sozialstaat zu beschneiden, würde ihr das Bundesverfassungsgericht in regelmäßigen Abständen einen Strich durch die Rechnung machen. Im übrigen besteht schon seit Einführung der Agenda 2010 die Möglichkeit, die Leistungen für ALG-II-Empfänger zu kürzen. Diese Möglichkeit wird allerdings in den zuständigen Behörden zu selten angewandt.

In den USA existiert ein Mindestlohn, den noch nicht einmal marktradikale Republikaner in Zweifel ziehen. Er führte dazu, dass mittlerweile illegale Einwanderer aus Lateinamerika im Niedriglohnbereich mehr verdienen als Deutsche bei der PinAG oder bei Lidl. Will die FDP wirklich solche Verhältnisse?

Vielen Dank für die Geduld und bis zum nächsten Mal!

Nachschlag: Der Versuch eines Berliner Abgeordneten der FDP-Bundestagsfraktion, eine Diskussion über die Höhe der Leistungen für Zuwendungsempfänger in Gang zu bringen (Kürzung der Sätze), wurde notabene von der FDP-Führung barsch abgewiesen. ( Dabei müssten nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes andere Leistungen wieder erhöht werden). Die Frage muss in diesem Zusammenhang gestellt werden: Warum setzt der FDP-Bundesvorsitzende eine Hartz-IV-Diskussion in Gang, wenn sich andererseits die Partei vor konkreten Schritten fürchtet? Oder wie lang sind die Schatten der NRW-Wahl?

3 Kommentare:

  1. Super Kommentar nur ist ein Mindestlohn keine Lösung, sondern ein weiteres Problem ...

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  2. ja, du hast recht...nur sehe ich keine andere möglichkeit...

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  3. Ein sehr intelligenter Artikel. Aber die Geschichte mit den Mindestlöhnen ist ein interessante Variante. Wenn niemand unter das Urteil gehen darf, müssen in der Tat Mindestlöhne her, es sei denn, die Schere zwischen Arbeit und Nichtarbeit bleibt so!

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