Montag, 10. Juni 2013

Was nun, Turkey? Ein kurzer Kommentar.

„Wir sind alle Soldaten Atatürks“, so kann man es neuerdings von den Demonstranten auf den Straßen der Türkei landauf landab vernehmen. Was machen wir dessen ungeachtet mit Menschen, die nichts mehr mit Atatürk anfangen können, weil seine Rezepte im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr greifen? Mit Menschen, die einen strikten Etatismus ablehnen? Mit Menschen, die für die freie Religionsausübung aller Religionen eintreten oder Gegner eines exzessiven Nationalismus sind? Mit Menschen, die keinen Personenkult pflegen, sondern mit einem liberalen Verfassungspatriotismus sympathisieren?

Zu Zeiten des Kemalismus steckte man viele unbequeme Geister in die Gefängnisse (kein großer Unterschied zur aktuellen Praxis). Hier wird schon angedeutet, in welche Richtung der Zug fahren soll. Ideologien dürfen nicht wieder zur Staatsräson erklärt werden. Ferner schaden Personenkulte - welcher Art auch immer – der zivilgesellschaftlichen Entwicklung. In einer Demokratie regelt die Verfassung das Zusammenleben der Staatsbürger und keineswegs ein spezifisches Weltbild oder eine einzelne Figur.

Kemalisten gehen gegenwärtig unter dem Deckmantel des Säkularismus auf die Straße. Die Türkei war aber niemals säkular. Der Gründer der türkischen Republik selbst machte den sunnitischen Islam im Jahre 1923 zur Staatsreligion (er ließ 1928 den Islam als Staatsreligion aus der Verfassung streichen; selten mit praktischen Auswirkungen). Türken anderer Religionen konnte man getrost als Staatsbürger zweiter oder dritter Klasse (je nach politischer Wetterlage) abstempeln. In offiziellen Dokumenten wurde nicht nur die Religion eingetragen. Man erkannte anhand der Nummer, ob jemand sich zum Sunnismus, Schiismus oder Yezidentum bekannte. Säkularismus bedeutet im modernen Sinne nicht lediglich die Trennung von Staat und Religion, sondern dass jener sich gegenüber den Glaubensgemeinschaften neutral verhält. Davon konnte (und kann) keine Rede sein.

Die Protagonisten des Kemalismus stülpten ihre Revolution den Türken von oben nach unten über, ohne auf jahrhundertealte Traditionen zu achten oder ernsthaft für den daraus resultierenden Kulturschock zu werben (eine frappierende Parallele zur Russischen Revolution). Die Hälfte der Türken haben diese Ideologie niemals angenommen. Daher lässt sich die Türkei nach Samuel Huntington als „torn country“ (zerrissenes Land) oder „divided nation“ bezeichnen. Die bitter notwendige Einheit von Staat und Nation entpuppt sich als Illusion. Sie hat es in Wirklichkeit niemals gegeben.

Besonnene Köpfe auf beiden Seiten sollten sich jetzt zusammensetzen und einen Weg in die Zukunft aufzeigen. Die Kemalisten müssen einsehen, dass man mit alten Rezepten bzw. Ideologien keine Politik mehr betreiben kann. Der türkische Aufschwung der letzten zehn Jahre ist einer marktwirtschaftlichen, offenen und die Globalisierung als Chance begreifenden pragmatischen Politik zu verdanken. Sie hat dazugeführt, dass das Land nach China die höchsten Wachstumsraten auf der Welt verzeichnet. Niemals in der Geschichte ging es den Türken besser als heute. Die AKP dagegen kann ihren religiös/autoritären Kurs nicht weiter im Alleingang verfolgen. Sie würde in kürzester Zeit die internationale Reputation des Landes und den zunehmenden Wohlstand seiner Bürger gefährden. Kein (zukünftiges) Industrieland lässt sich auf Dauer erfolgreich mit Zuckerbrot und Peitsche regieren. Drohungen oder hitzköpfige Äußerungen des türkischen Ministerpräsidenten gießen indes nur Öl ins Feuer.

Nötig wäre nun eine Form des Runden Tisches, der als Ergebnis nichts weniger als eine neue Verfassung zum Ziel ausgibt. Eine Verfassung, die die Interessen und Bedürfnisse aller Türken annähernd widerspiegelt. Eine Verfassung, die den politischen Zentralismus beendet (warum entscheidet die nationale Regierung darüber, was mit einem Park in Istanbul geschieht?). Eine Verfassung, die wie in anderen westlichen Staaten sich zur Leitkultur eines freiheitlichen Gemeinwesens entwickelt. Eine Verfassung, in der die grundlegenden Menschenrechte verankert und garantiert werden. Ob die sich momentan antagonistisch gegenüberstehenden Türken dazu bereit sind, bleibt mehr als zweifelhaft.