Montag, 31. Januar 2011

"Back to the Future" revisited

Im Jahre 1990 erregte John J. Mearsheimer mit seinem Aufsatz über die Zukunft Europas großes Aufsehen und löste einen regen akademischen Diskussionsprozeß aus. Hat er zwanzig Jahre danach auch recht behalten?

Der amerikanische Politologe John J. Mearsheimer machte sich in einem aufsehenerregenden Aufsatz über die kommende Struktur Europas nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus in der Fachzeitschrift International Security einige Gedanken (John J. Mearsheimer, Back to the Future. Instability in Europe after the Cold War, in: International Security, 1, 1990, S. 5-56). Als Anhänger der Realistischen Schule ging der Chicagoer Professor zunächst davon aus, daß in der neuen Ära der Weltpolitik weiterhin die Gegenstandsbereiche der Macht und des nationalen Interesses sowie das Gleichgewicht der Mächte die zentrale Rolle spielen. Der dominante Akteur bleibt der Nationalstaat. Aus diesem Grundgerüst entwickelte Mearsheimer eine düstere Prognose über die Zukunft des europäischen Kontinents, die im folgenden kurz zusammengefaßt werden soll:


1. Die europäische Ordnung wandelt sich durch den Rückzug der Supermächte von einem bipolaren zu einem multipolaren System. Bipolare Ordnungen seien jedoch immer stabiler, weil sich die Hauptmächte gegenseitig kaum ausspielen lassen. Die Machtpotentiale in einem bipolaren System seien gleichmäßiger verteilt. In einem multipolaren System dagegen, könne die zweite Großmacht sich extern mit einer dritten gegen die erste verbünden. Der europäische Kontinent werde ohne die beiden sich im Antagonismus gegenüberstehenden Supermächte konfliktträchtiger und werde damit instabile Zeiten erleben, die mit den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts vergleichbar wären.


2. Staaten wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Russland stiegen zu europäischen Großmächten auf, die in Anlehnung zum Mächtegleichgewicht des 19. Jahrhunderts in Konkurrenz zueinander stünden. Die Supermächte hätten in entfernten Weltregionen um Einfluß gerungen. Das Interesse der europäischen Staaten richte sich dagegen auf Osteuropa. Regionale Organisationen wie die EU könnten keinen entscheidenden Beitrag für die regionale Sicherheit mehr leisten. Selbst einen Auflösungsprozeß schließt Mearsheimer nicht aus.


Diese "doomsday" Perspektiven haben sich zwanzig Jahre nach dem Endes des Kalten Krieges zum großen Teil nicht bewahrheitet. Die EU steht weder vor einem Auflösungsprozeß noch ist es zwischen den wichtigsten europäischen Nationalstaaten zu anarchischen Konkurrenzkämpfen gekommen. Die Reden des damaligen deutschen Außenministers Fischer und des französischen Staatspräsidenten Chirac versuchten sogar, die Einigung mit föderalen Strukturen zu versehen. Heute haben die europäischen Staaten trotz vieler innenpolitischer Vorbehalte in der Griechenland-Krise Solidarität (Euro-Währungsfonds) mit dem Land gezeigt. Auch stehen noch etliche institutionelle Weichenstellungen zu einem stärkeren Europa bevor. Doch darf man nicht verschweigen, daß der Supermachtantagonismus in vielen Regionen Europas und der Welt zur Hemmung und Verhinderung von Konflikten beitrug. Das Machtvakuum nach dem Ende des Kalten Krieges trug erheblich zur Krisenbeschleunigung auf dem Balkan und dem Nahen Osten bei.


Die Zukunft des Internationalen Systems ist multipolar


Überträgt man Mearsheimers Überlegungen zur Zukunft Europas generell auf das Internationale System, so läßt sich in der Tat von einer multipolaren Ordnung sprechen, welche sich im Umbruch befindet und nach seiner Intepretation instabil ist. Aufsteigende Akteure wie China oder Indien geben sich mit der gegenwärtigen Machtverteilung keineswegs zufrieden. In der Taiwanfrage kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen Washington und Peking. Das transatlantische Verhältnis ist ebenfalls gefährdet. Die Spannungen zwischen der EU und den USA in Fragen der Lastenverteilung in der Sicherheitpolitik, beim Umweltschutz, bei der Finalität der europäischen Einigung oder in internationalen Wirtschaftsfragen (Währung, Airbus-Boeing, Agrarsubventionen) haben in den letzten zwanzig Jahren enorm zugenommen.


Für die Anhänger des Realismus war die Gründung der EU aufgrund der Bedrohungsfunktion des Warschauer Paktes die logische Konsequenz. Mit dem Zerfall des Ostblocks ist diese Rechtfertigung nicht mehr existent. Spinnt man den realistischen Faden allerdings weiter – Mearsheimer tat dies in seinem Artikel nicht - so verlagert sich die Bedrohungsperzeption auf die multidimensionale Ebene des Internationalen Systems. Die Unfähigkeit des europäischen Nationalstaates, sich weltweiten Bedrohungsszenarien auszusetzen, sei es in der Sicherheits- oder der Wirtschaftspolitik, sei es im Verhältnis zu China, Indien oder den USA, zwingt zu folgender Feststellung: In einer multipolaren Weltordnung mit fünf oder sechs Zentren (USA, EU, Japan, China, Indien, Russland) werden diese global in (anarchischer) Weise in Rivalität zueinander stehen. Nicht die EU, sondern die NATO steht vor einem Auflösungsprozeß. Beweis für eine derartige Annahme wäre die Nicht-Existenz der internationalen Organisation bei den Friedensverhandlungen von Dayton (Jugoslawien-Krieg) oder die Afghanistan-Intervention. Entscheidungsprozesse liefen zwischen den Nationalstaaten ab. Die NATO selbst stellte für viele Akteure hierbei noch nicht einmal ein Forum des Informationsaustausches dar. Für die Staaten Europas bedeutet dies, zügig die Integrationsbemühungen zu forcieren und sich darauf einzustellen, daß die Interessendivergenzen zwischen Europa und den USA zunehmen. Der Atlantik wird breiter. Europa muß lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Insofern entpuppt sich Mearsheimers wichtigste Feststellung – die Atomisierung Europas – als Fehleinschätzung.

Samstag, 1. Januar 2011

The coming battle: Pax Americana versus Pax Sinica

Menschenrechte, Rüstungswettbewerb, globaler Rohstoffabbau, Währungsfragen oder die Insel Taiwan. Die Konflikte zwischen den USA und China häufen sich. Ein genauer Blick auf die Beziehungen beider Nationen macht sichtbar, dass die Spannungen alles andere als zufällig sind.

Früher und heute: Was sagt die Wissenschaft?


Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes schwelgten Politiker und Experten noch in Champagnerlaune: Mit einer großen Friedensdividende sei in der Zukunft zu rechnen. Der us-amerikanische Historiker Francis Fukuyama sprach sogar vom Ende der Geschichte. Nach dem ideologischen Antagonismus zwischen liberalem Kapitalismus und totalitärem Sozialismus hätte erstgenannter den Sieg davongetragen. Durch die fast flächendeckende Einführung der liberalen Demokratie verschwänden zahlreiche Konfliktzonen auf der Welt.

Der Globus ist in den letzten zwanzig Jahren aber nicht friedvoller, sondern aufgrund ethnischer, religiöser und innerstaatlicher Auseinandersetzungen gefährlicher geworden. Besser sollte man dem ehemaligen us-amerikanischen Außenminister Henry Kissinger zustimmen, der in Anlehnung an das europäische Staatensystem des 19. Jahrhunderts eine multipolare Weltordnung mit China, Russland, den USA, Europa, Japan, Indien und Brasilien als Großmächte prophezeit. In regelmäßigen Abständen werde es zwischen internationaler Kooperation und der Durchsetzung nationaler Interessen zu außerordentlichen Spannungen kommen. Während nach Ansicht von Francis Fukuyama liberale Demokratien selten untereinander Kriege führen stellt Kissinger die nationale Interessendurchsetzung nach außen über die innere Verfasstheit eines Staates. Besondere Bedeutung misst er den Beziehungen zwischen der Volksrepublik China und den USA bei. Hier liege der riskanteste Schnittpunkt kommender Machtkonflikte.

John J. Mearsheimer, der führende Vertreter des „offensive realism“, betont die unausweichliche Konfrontation zwischen beiden Mächten und fragt provokant, wie die Vereinigten Staaten von Amerika reagierten, wenn chinesische Kriegsschiffe vor der mexikanischen Küste oder in internationalen Hoheitsgewässern in der Nähe der USA patroullieren würden. Genau dies tun us-amerikanische Streitkräfte seit Jahrzehnten im chinesischen Meer unter nun scharfer Missbilligung chinesischer Politiker. Nach Mearsheimer seien beide Großmächte regionale Hegemonialmächte. China würde in Zukunft alles unternehmen, um die USA aus ihrer Hemisphäre hinauszubefördern. Die USA versuchten unter Einbeziehung ihrer Bündnispartner, weiterhin ihren Einflussbereich abzustecken.

Für den Politologen aus Chicago spielt wie bei Kissinger für die Frage, welche Außenpolitik ein Staat verfolgt, nicht das politische System eine Rolle, sondern die Machtverhältnisse bzw. das Machtpotential („capabilities“). Mit dem Aufstieg Chinas sei zu erwarten, dass sich das Verhalten gegenüber internationalen Akteuren dem der Vereinigten Staaten annähern werde: eine auf das Überleben im anarchischen System ausgerichtete Politik mit dem Anspruch, die stärkste Macht in der Region zu werden. Das Ziel jeden Staates sei es, seine Machtanteile so weit wie möglich zu maximieren (Hegemonie). Die USA und die frühere Sowjetunion hätten schließlich als globale Supermächte trotz unterschiedlicher politischer Systeme ähnliche Politiken betrieben. Mearsheimer sieht in dem chinesischen Aufstieg zur Weltmacht eine viel größere Gefahr als die gegenwärtige Bedrohung des Westens durch den extremen Islamismus. Er unterscheidet sich von Anhängern des strukturellen „defensive realism“ wie Kenneth N. Waltz oder Joseph Grieco, die statt einer überlegenheitsbetonten Powermaximierung von Machtanhäufung zur territorialen Sicherung ausgehen. Nach dieser Annahme strebe China nicht unbedingt eine Überlegenheit gegenüber den USA an, wolle allerdings in sicheren Grenzen leben.

Vielfältige Konfliktlinien

Das Verhältnis zwischen China und den USA ist wegen unterschiedlicher Streitigkeiten seit vielen Jahren schwer belastet. Neben der Taiwanfrage haben beide Länder in Sachen Raketenabwehr und Spionageaufklärung ihre Meinungsverschiedenheiten offen ausgetragen. Auch die de facto Weigerung Pekings, die chinesische Währung aufzuwerten, veranlasste viele Offizielle in Washington dazu, offen ihren Unmut darüber zu äußern. China, mit 1,3 Mrd. Menschen bevölkerungsreichster Staat der Erde, stellt eine im Aufstieg befindliche Macht dar und versteht sich als Gewinner der neuen Weltordnung. Dessen ungeachtet besteht eine Diskrepanz zwischen der reellen Macht Pekings und der regionalen Ordnung in Süd-Ost-Asien. China möchte den Status quo des Mächtegleichgewichts – und das tangiert hauptsächlich die USA – zu seinen Gunsten verändern (siehe Mearsheimer). Die Rückgabe der früheren britischen Kronkolonie Hongkong und die chinesische Forderung, die Insel Taiwan de jure fest an das Mutterland zu binden, zeugt von dieser Politik. Heute gilt China nach der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung (4,5 Billionen US-$ pro Jahr) hinter den USA als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Das wirtschaftliche Fundament des Landes verstärkt den Wunsch, eine den chinesischen Interessen entsprechende internationale Veränderungspolitik zu gestalten. Als das Land mit den größten Devisenreserven der Welt, leistet es sich seit einigen Jahren eine agressive Investitionspolitik in Lateinamerika und Afrika zur Rohstoffsicherung. Im Jahr 2010 kürte das US-Wirtschaftsmagazin Forbes den chinesischen Präsidenten Hu Jintao zum mächtigsten Mann der Welt, US-Präsident Barack Obama auf Platz 2 verweisend. Obwohl diese Wahl eher als symbolische Geste zu verstehen ist, zeigt sie auch, was die USA von China befürchten: Die Nr. 1 der Welt zu werden.

Die USA verstehen sich als Status quo-Macht in Süd-Ost-Asien. Sie haben keinerlei Interesse daran, dass eine neue regionale Macht ihr nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebautes Allianzsystem durch Gegenmachtbildung herausfordert. Dementsprechend ernannte der ehemalige US-Präsident George W. Bush China zum kommenden Hauptgegner (und nicht mehr Russland). Hatte sein Vorgänger Bill Clinton in Bezug auf das Reich der Mitte noch von einer "strategischen Partnerschaft" gesprochen, änderte die Bush-Administration dieses Konzept in eine "strategische Rivalität" um. Die Intentionen des Ex-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, die amerikanische Nuklearpolitik zu ändern, indem ballistische Gefechtsköpfe von Russland nach China verlagert werden sollten, zielte in diese Richtung. Dem Vorwurf der chinesischen Führung, die USA initiierten mit ihrem Raketenabwehrprogramm einen neuen globalen Rüstungswettlauf, begegnete Washington mit dem Hinweis, dass Peking in den letzten Jahren selbst massive Rüstungsanstrengungen unternommen habe (die Rüstungsausgaben sind in den letzten zehn Jahren um etwa 200% gestiegen). Zwar stünden China erst ca. 30 ballistische Interkontinentalraketen zur Verfügung, aber auf diesem Rüstungsgebiet werde es alle Anstrengungen unternehmen, das derzeit bestehende nukleare Gleichgewicht zu verändern. Präsident Obama versucht, in die Fußstapfen seines Vor-Vorgängers zu treten und eine kooperationswillige Außenpolitik gegenüber Peking zu betreiben. Ob er seine Politik die nächsten Jahre über durchhalten kann, erscheint mehr als zweifelhaft. Die us-amerikanische Öffentlichkeit wird bei Machtzuwächsen Chinas die Administration anhalten, eine härtere Gangart gegenüber dem pazifischen Konkurrenten einzuschlagen.

Alle gegen China?

Der Konflikt zwischen beiden Staaten ist vorprogrammiert und wird die Region die nächsten Jahrzehnte in Atem halten. Diese Konfliktkonstellation lässt sich als "regionale Bipolarität" oder "regionaler Kalter Krieg" bezeichnen. Bleibt nur zu hoffen, dass durch ein vernünftiges bilaterales Krisenmanagement sowie durch die Schaffung neuer regionaler Organisationen der Konflikt auf zivilem Wege entschärft werden kann. Entscheidend wird ebenfalls sein, ob es den Vereinigten Staaten von Amerika gelingen wird, die beiden Regionalmächte Russland und Indien langfristig in eine Allianz gegen China einzubinden. Das würde nichts anderes bedeuten als dass China mit wenigen Ausnahmen wie Nordkorea alleine gegenüber einem regionalen Bündnissystem gegenüberstünde (alle gegen China). Folgt man den Realisten, werden es weiterhin die nuklearen Waffenarsenale sein, die durch eine glaubwürdige Abschreckungspolitik einen Krieg zwischen den beiden Giganten verhindern.

Für Europa könnte der chinesisch-amerikanische Dauerkonflikt ebenfalls erhebliche Konsequenzen haben. Müssten die USA ihre ganze Kraft Süd-Ost-Asien widmen, verlören sie endgültig das Interesse an der atlantischen Bündnispolitik. Dies würde sich beschleunigen, falls Europa nicht eindeutig zu Gunsten der USA Partei ergreift. Daraus ergeben sich Umwälzungen im Internationalen System, die wohl eher mit den Begriffen "Neue Welt-Unordnung", "diffuses Mächtegleichgewicht" oder „instabile Multipolarität“ etikettiert werden können. Das kommende „pazifische Zeitalter“ wird mit Sicherheit den Bedeutungsverlust des europäischen Kontinents beschleunigen.

Die Ereignisse der letzten zehn Jahre verdeutlichen, dass die optimistische Sichtweise liberaler Analytiker nicht den Realitäten entspricht. Vieles spricht für eine pessimistisch-realistische Analyse mit einem breiten Themenfeld möglicher Konfliktpotentiale. Die entscheidende Frage wird deshalb sein, ob die internationale Gemeinschaft die Kraft aufbringt, sie auf friedlichem Wege abzuschwächen.