Im Jahre 1990 erregte John J. Mearsheimer mit seinem Aufsatz über die Zukunft Europas großes Aufsehen und löste einen regen akademischen Diskussionsprozeß aus. Hat er zwanzig Jahre danach auch recht behalten?
Der amerikanische Politologe John J. Mearsheimer machte sich in einem aufsehenerregenden Aufsatz über die kommende Struktur Europas nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus in der Fachzeitschrift International Security einige Gedanken (John J. Mearsheimer, Back to the Future. Instability in Europe after the Cold War, in: International Security, 1, 1990, S. 5-56). Als Anhänger der Realistischen Schule ging der Chicagoer Professor zunächst davon aus, daß in der neuen Ära der Weltpolitik weiterhin die Gegenstandsbereiche der Macht und des nationalen Interesses sowie das Gleichgewicht der Mächte die zentrale Rolle spielen. Der dominante Akteur bleibt der Nationalstaat. Aus diesem Grundgerüst entwickelte Mearsheimer eine düstere Prognose über die Zukunft des europäischen Kontinents, die im folgenden kurz zusammengefaßt werden soll:
1. Die europäische Ordnung wandelt sich durch den Rückzug der Supermächte von einem bipolaren zu einem multipolaren System. Bipolare Ordnungen seien jedoch immer stabiler, weil sich die Hauptmächte gegenseitig kaum ausspielen lassen. Die Machtpotentiale in einem bipolaren System seien gleichmäßiger verteilt. In einem multipolaren System dagegen, könne die zweite Großmacht sich extern mit einer dritten gegen die erste verbünden. Der europäische Kontinent werde ohne die beiden sich im Antagonismus gegenüberstehenden Supermächte konfliktträchtiger und werde damit instabile Zeiten erleben, die mit den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts vergleichbar wären.
2. Staaten wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Russland stiegen zu europäischen Großmächten auf, die in Anlehnung zum Mächtegleichgewicht des 19. Jahrhunderts in Konkurrenz zueinander stünden. Die Supermächte hätten in entfernten Weltregionen um Einfluß gerungen. Das Interesse der europäischen Staaten richte sich dagegen auf Osteuropa. Regionale Organisationen wie die EU könnten keinen entscheidenden Beitrag für die regionale Sicherheit mehr leisten. Selbst einen Auflösungsprozeß schließt Mearsheimer nicht aus.
Diese "doomsday" Perspektiven haben sich zwanzig Jahre nach dem Endes des Kalten Krieges zum großen Teil nicht bewahrheitet. Die EU steht weder vor einem Auflösungsprozeß noch ist es zwischen den wichtigsten europäischen Nationalstaaten zu anarchischen Konkurrenzkämpfen gekommen. Die Reden des damaligen deutschen Außenministers Fischer und des französischen Staatspräsidenten Chirac versuchten sogar, die Einigung mit föderalen Strukturen zu versehen. Heute haben die europäischen Staaten trotz vieler innenpolitischer Vorbehalte in der Griechenland-Krise Solidarität (Euro-Währungsfonds) mit dem Land gezeigt. Auch stehen noch etliche institutionelle Weichenstellungen zu einem stärkeren Europa bevor. Doch darf man nicht verschweigen, daß der Supermachtantagonismus in vielen Regionen Europas und der Welt zur Hemmung und Verhinderung von Konflikten beitrug. Das Machtvakuum nach dem Ende des Kalten Krieges trug erheblich zur Krisenbeschleunigung auf dem Balkan und dem Nahen Osten bei.
Die Zukunft des Internationalen Systems ist multipolar
Überträgt man Mearsheimers Überlegungen zur Zukunft Europas generell auf das Internationale System, so läßt sich in der Tat von einer multipolaren Ordnung sprechen, welche sich im Umbruch befindet und nach seiner Intepretation instabil ist. Aufsteigende Akteure wie China oder Indien geben sich mit der gegenwärtigen Machtverteilung keineswegs zufrieden. In der Taiwanfrage kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen Washington und Peking. Das transatlantische Verhältnis ist ebenfalls gefährdet. Die Spannungen zwischen der EU und den USA in Fragen der Lastenverteilung in der Sicherheitpolitik, beim Umweltschutz, bei der Finalität der europäischen Einigung oder in internationalen Wirtschaftsfragen (Währung, Airbus-Boeing, Agrarsubventionen) haben in den letzten zwanzig Jahren enorm zugenommen.
Für die Anhänger des Realismus war die Gründung der EU aufgrund der Bedrohungsfunktion des Warschauer Paktes die logische Konsequenz. Mit dem Zerfall des Ostblocks ist diese Rechtfertigung nicht mehr existent. Spinnt man den realistischen Faden allerdings weiter – Mearsheimer tat dies in seinem Artikel nicht - so verlagert sich die Bedrohungsperzeption auf die multidimensionale Ebene des Internationalen Systems. Die Unfähigkeit des europäischen Nationalstaates, sich weltweiten Bedrohungsszenarien auszusetzen, sei es in der Sicherheits- oder der Wirtschaftspolitik, sei es im Verhältnis zu China, Indien oder den USA, zwingt zu folgender Feststellung: In einer multipolaren Weltordnung mit fünf oder sechs Zentren (USA, EU, Japan, China, Indien, Russland) werden diese global in (anarchischer) Weise in Rivalität zueinander stehen. Nicht die EU, sondern die NATO steht vor einem Auflösungsprozeß. Beweis für eine derartige Annahme wäre die Nicht-Existenz der internationalen Organisation bei den Friedensverhandlungen von Dayton (Jugoslawien-Krieg) oder die Afghanistan-Intervention. Entscheidungsprozesse liefen zwischen den Nationalstaaten ab. Die NATO selbst stellte für viele Akteure hierbei noch nicht einmal ein Forum des Informationsaustausches dar. Für die Staaten Europas bedeutet dies, zügig die Integrationsbemühungen zu forcieren und sich darauf einzustellen, daß die Interessendivergenzen zwischen Europa und den USA zunehmen. Der Atlantik wird breiter. Europa muß lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Insofern entpuppt sich Mearsheimers wichtigste Feststellung – die Atomisierung Europas – als Fehleinschätzung.
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