Eine typische Szene in der Stadt Ayacucho, Peru. Man sitzt zu zweit an einem Tisch in einem der bekanntesten Restaurants. Außer diesem Tisch ist noch ein anderer besetzt. Das Restaurant beschäftigt circa 15 Kellner. Man sollte trotzdem viel Zeit für den Aufenthalt kalkulieren. Die Anzahl der Kellner verläuft scheinbar dysfunktional zur Wartezeit. Das Essen ist nicht das Richtige, die Getränke werden vergessen oder das Personal nimmt ein Wettrennen mit „imaginären Schnecken“ auf.
Wer in die peruanische Provinz fährt, wird aus zwei Gründen zu einer Zeitreise eingeladen:
• Die Globalisierung – so wie man sie aus der OECD-Welt (mit Ausnahme in großen Teilen Mexikos) kennt – kam in der Provinz (noch) nicht an. Arbeitsteilige Prozesse, Wettbewerb und Marktwirtschaft werden durch das Fehlen von Verkehrswegen, ungenügenden Kommunikationsstrukturen, eines mangelhaften Bildungssystems sowie einer gewollten Abschottungspolitik der lokalen Mittelschicht verhindert. Die Korruption stellt eine wichtige Hürde für eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung dar.
• Bis zum heutigen Tage existiert in Peru (und ebenfalls anderswo in Lateinamerika) eine strikte Trennung von Zentrum und Peripherie. Die Hauptstadt (Lima) kontrolliert die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse. Wenige Menschen halten in Lima die ökonomischen Fäden des ganzen Landes in der Hand. Die meisten Abgeordneten kommen aus Lima. Wer von einer Provinzstadt zur nächsten per Flugzeug reist, muss fortwährend das Drehkreuz Lima anfliegen. Das lediglich rudimentär ausgebaute Straßensystem zwingt seine Nutzer dazu, öfter einen Umweg über die Küstenstraßen (Panamerica) unter ungeheuerlichem Zeitverlust in Kauf zu nehmen. Erst in den letzten Jahren ist eine vorsichtige Wandlung anhand von strukturellen Investitionen zu beobachten.
Diese zwei Entwicklungen haben in der andinen Stadt Ayacucho zu einer mehr oder weniger geschlossenen Gesellschaft geführt, die eine Art von „Abschottungspolitik“ braucht, um die vorhandenen ineffizienten Strukturen am Leben zu erhalten. Sie wird zum großen Teil weiter gepflegt, um ein Verschieben von wirtschaftlichen und politischen Gleichgewichten zu verhindern. Sie könnten andererseits zu massiven Wohlstandsverlusten der alteingessenen Eliten führen.
Viele der in Lima zu beziehenden Waren und Güter, sind in Ayacucho nicht oder nur zu horrenden Preisen erhältlich. Durch fehlende Konkurrenz können sich Betriebe am Leben erhalten, die auf dem peruanischen bzw. Weltmarkt keine Chance hätten. Es existieren zu viele Einzelhändler in der 180.000 Einwohner-Stadt, die ebenfalls bei einer globalisierten Marktlandschaft ihre Tore sofort schließen müssten. Händler und Dienstleister halten ihre Zusagen so gut wie nie ein. Sie lassen ihre Kunden teilweise Monate im Ungewissen.
In der Umgebung von Ayacucho gibt es kein Hotel, welches internationalen touristischen Ansprüchen Rechnung trägt. In Ayacucho lebende In- und Ausländer müssen sechs Stunden an die Küste fahren, um zum Beispiel für ein Wochenende auszuspannen. Dabei sind die Anden für einen aktiven und attraktiven Kurzurlaub sehr geeignet. Für die 600 Kilometer lange Strecke nach Cusco benötigt man zwei Tage mit dem Auto, weil keine durchgehend asphaltierte Straße existiert. Touristen, die Cusco und Machu Pichu besuchen, fliegen wegen nicht vorhandener Direktflüge wieder nach Lima zurück.
Das Universitätspersonal sieht keinen Anlass zu Anpassungen, was dazu führt, dass alte Lehrmethoden weiter fortbestehen. Anstatt selbstständiges Denken zu vermitteln, müssen die Studenten ihren Lehrstoff auswendig „pauken“. Viele Professoren besitzen keine eigene e-mail-Adresse. Neue Ideen im universitären Betrieb werden sofort mit Verdacht des Machtverlustes abgebügelt. Ein Austausch zwischen den Fachbereichen der Universitäten im Land findet nahezu nicht statt.
Auch die Bereitschaft, etwas Neues zu lernen, ist kaum vorhanden. Dies gilt für die regional akademische wie für die Wirtschaftselite. Das allgemeine Bildungsniveau bleibt gering. Durch die fehlende Kommunikation besteht in Bildungsfragen ein großer Rückstand gegenüber den Zentren des Kontinents. Effizienzprozesse werden generell verhindert.
Ein Beispiel, welches für die Stadt Ayacucho typisch ist:
In den letzten Monaten wurde zur Diskussion gestellt, ob ein moderner Supermarkt von einer der größeren Firmen in Lima in der Stadt errichtet werden sollte. Es wäre das erste Geschäft, welches modernen hygienischen Anforderungen entspräche und einen Wettbewerbsschub initiieren koennte. Selbstverständlich kämen viele Betriebe und Händler massiv unter Druck. Ausländische und inländische Waren wären auf einen Schlag zu kaufen, die von niemandem sonst angeboten würden. Ein Teil der lokalen Mittelschicht wehren sich gegen die eventuelle Neuinvestition, damit sie keine Wohlstandsverluste erleiden: Lebensmittel aus der Küstenregion oder Argentinien, Möbel aus dem südostasiatischen Raum könnten günstiger und besser sein.
Lassen sich Globalisierungsprozesse durch lokale und regionale Eliten aufhalten? Mitnichten. Eine verantwortungsvolle Politik sollte durch eine stringente Bildungspolitik die Menschen in der Dritten Welt auf die kommenden bahnbrechenden, vielleicht sogar revolutionären Veränderungen vorbereiten. Es wird interessant sein zu beobachten, wer in einer Stadt wie Ayacucho in den nächsten zehn Jahren als Modernisierungsverlierer oder Modernisierungsgewinner hervorgeht. Ein Ankämpfen der lokalen Obrigkeiten gegen neue Interdependenzen, hieße in Don Quichotscher Manier gegen Windmühlen anzukämpfen.
Diese kurze Schilderung zeigt, dass Entwicklung nicht nur auf „linken“ oder konstruktivistischen Postimperialismus-, Modernisierungs- oder Dependenztheorien beruht, indem die kapitalistische erste Welt einem sittenwidrigen Postkolonialismus frönt. Die Verhinderung von innerstaatlichen Entwicklungsprozessen durch die heimischen Eliten gehört ebenfalls thematisiert. Der interessante Faktor ist, dass die Abschottung und Ausbeutung der Zentren im Hinblick auf die Peripherien in den Peripherien im Kleinen ebenso praktiziert wird. Diese negative Dynamik führt zu einer konservativen Status-quo-Politik des gewollten Stillstandes.
Was bedeutet das für die deutsche Entwicklungspolitik? Deutschland gehört zu den wichtigsten Geberländern in Peru. Hier sollte eine neu ausgerichtete Entwicklungspolitik reagieren und agieren:
a) Regierungen der Entwicklungsländer müssen dazu gedrängt werden, einen Dezentralisierungsprozess einzuleiten, der die politische und ökonomische Macht verteilt. Ein nationales und regionales Checks-and-Balances-System dient wie in anderen Demokratien zur gegenseitigen Kontrolle. Der Zentrum-Peripherie-Dualismus sollte entscheidend abgeschwächt werden.
b) Marktwirtschaftliche Strukturen müssen auch in den Provinzen der Länder implementiert werden (z.B. in Ayacucho). Dazu bedarf es umgekehrt einer Teilentmachtung der Provinzeliten, indem die allzu gerne betriebene ökonomische Abschottungspolitik aufgebrochen wird. Zur Not muss Entwicklungshilfe gekürzt oder eingestellt werden.
c) Im Gegenzug verpflichten sich die Industriestaaten, endlich einen freien Handel zu garantieren. Die Öffnung der Märkte für die Entwicklungsländer bleibt Bedingung, insbesondere für landwirtschaftliche Produkte. Es geht nicht an, dass die OECD-Welt nicht konkurrenzfähige Produkte subventioniert, die ohne weiteres aus anderen Ländern zu beziehen wären. Jene werden umgekehrt hochsubventioniert in den Staaten der Dritten Welt verkauft, was wiederum zu einem Bauernsterben dort führt. Sonntagsreden westlicher Politiker zur internationalen Gerechtigkeitsfrage werden ad absurdum geführt, ganz abgesehen von der gigantischen Ressourcenverschwendung in den Staaten der Ersten Welt.
Freiheit, Markt, Wettbewerb sowie Dezentralisierung auf Augenhöhe ist trotz aller Anpassungsschwierigkeiten die beste Entwicklungspolitik. Dass so oft zitierte Credo „Hilfe zur Selbsthilfe“ sollte in Zukunft zur Leitlinie deutscher Entwicklungshilfepolitik werden.
Provinzen wie Ayacucho stehen vor schwierigen Anpassungsprozessen. Im Enddefekt haben sie es selbst in der Hand, welchen Weg sie einschlagen. Sie können sich gegen Globalisierung und Interdependenz wehren und es anderen Kräften überlassen, über ihr Schicksal zu bestimmen. Oder sie gestalten den Prozess unter schwierigen Bedingungen selbst, um in Zukunft nicht nur das Überleben zu sichern, sondern durch mehr Wachstum und Wohlstand den zur Zeit unüberbrückbar erscheinenden Abstand zum „Zentrum Lima“ zu verkleinern.
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